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Voller Einsatz für die Energiewende im Automobil

26/01/13

Ganz langsam beginnen sich die Räder der dunkelgrünen MAN-TGX-Zugmaschine zu drehen. Es ist kurz nach neun Uhr abends und die eiskalte Luft füllt sich mit V8-Klang aus 16,2 Liter Hubraum. Für die nächsten Tage hängen an der 680-PS-Maschine nicht nur knapp 150 Tonnen Zuglast, sondern auch große Erwartungen auf dem Weg zur Mobilität der Zukunft.
Die kostbare Fracht ist ein Methanisierungsreaktor – gebaut von Audi-Konzernschwester MAN. An seinem Zielort wird der Reaktor als Herzstück für die Audi e-gas Anlage gebraucht.
Zwei Polizeibeamte haben alle Genehmigungen für die Fahrt des 43 Meter langen Schwerlast-zugs mit seinen 14 Achsen kontrolliert; endlich kann es losgehen. Fahrer Oliver Heisel gibt vorsichtig Gas, der Zug beschleunigt quälend langsam. Die Zeit drängt, denn heute Nacht müssen sie 350 Kilometer schaffen. Statt die direkte Route zu nehmen, muss der Tross Groß-städte wie Köln und Düsseldorf in weitem Zick-Zack umfahren. Ziel ist die kleine Gemeinde Werlte im Emsland.
Dort entsteht auf 4.100 m2 die Audi e-gas-Anlage. Hier produziert Audi künftig nach dem Power-to-Gas-Prinzip aus Ökostrom, CO2 und klimafreundlich erzeugtem Wasserstoff einen revolutionären Kraftstoff: das e-gas. Ein synthetisches Erdgas, das Audi über das öffentliche Gasnetz an die CNG-Tankstellen in Deutschland abgibt.
Die ersten Kilometer musste der Reaktor auf einem Schiff zurücklegen – vom MAN-Werk über die Donau zum Deggendorfer Hafen. Kräne haben den Reaktor dort auf den Schwertransporter umgeladen. Nun beginnt die Nachtschicht:
Das Zeitfenster für Straßen-Schwertransporte in Deutschland reicht in der Regel nur von 22 Uhr abends bis sechs Uhr morgens, dann sind die Straßen leer. Durch seine Überbreite kann der Zug nur auf dreispurigen Autobahnen überholt werden. Ansonsten müssen sich die Auto-fahrer mit etwa 45 km/h hinter dem begleitenden Polizeiauto einreihen.
Wozu ein solcher Aufwand? Warum Werlte und nicht der Hauptstandort von Audi, Ingolstadt? Das Ziel ist die CO₂-freie Mobilität. Dafür wird Strom benötigt aus alternativen Quellen, zum Beispiel durch Windenergie. Und die ist im Norden Deutschlands im Überfluss vorhanden. Bei der Produktion von e-gas wird CO2 gebunden, das sonst in die Atmosphäre gelangt wäre. Die Verbrennung im Motor setzt dieselbe Menge CO₂ frei, die vorher gebunden wurde – somit ergibt sich ein geschlossener Kreislauf und eine hervorragende Umweltbilanz.
Der Gigant muss 782 Kilometer längs durch Deutschland zurücklegen. Mit dem Auto ist das in acht Stunden zu schaffen. Mit dem 16 Meter langen, 5,80 Meter breiten und 3,60 Meter hohen Reaktor auf dem Tieflader dauert es acht Nächte. Schwere Schneefälle bringen den Zeitplan immer wieder durcheinander. Somit wird der Transport zum Härtetest für Mensch und Maschine. Immer wieder greifen die Fahrer Oliver Heisel und Rudi Lauer zum Funkgerät und lassen sich von Detlef Ackermann aus dem Begleitfahrzeug sagen, was sie in der Kabine selbst nicht sehen können. „Ohne die Ansagen von draußen wäre alles viel schwieriger und würde länger dauern. Wenn der Platz mal nicht reicht, räumen Detlef und Copilot Rudi den Weg frei“, sagt Oliver.
Noch ist das Grundstück in Werlte eine Baustelle. Aber wenn der Schnee geschmolzen ist, wird die Anlage den Probebetrieb aufnehmen. Im Sommer 2013 wird dieser beendet sein, ab dann strömen pro Jahr etwa 1.000 Tonnen e-gas in das öffentliche Gasnetz. Rund 2.800 Tonnen CO2 pro Jahr bindet die Anlage, was ungefähr der Menge entspricht, die 224.000 Buchen pro Jahr aufnehmen. Auch das Auto, das mit dem neuen Kraftstoff fahren soll, ist bereits in Planung: Das erste Serienmodell ist der Audi A3 Sportback TCNG, der gegen Ende 2013 zu den Händlern kommen wird. Ein Aufbruch in eine vielversprechende Zeit: 1.500 TCNG-Autos können künftig mit dem in Werlte produzierten e-gas jeweils 15.000 Kilometer im Jahr CO2-neutral fahren.
Doch bis dahin ist noch ein gutes Stück Weg zurückzulegen. Das nächste Hindernis stoppt den Schwertransporter. Beim Autobahn-Wechsel auf die A3 gerät der Transport ins Stocken: Die Rechtskurve ist zu eng. Jetzt muss das Räumkommando ran.
Schnell entfernen Detlef und Rudi die schwarz-weißen Leitpfosten und montieren ein Geschwindigkeitsschild ab, das im Weg steht. 40 km/h wären erlaubt. Für Fahrer Oliver unbedeutend, er kommt hier sowieso nur im Schneckentempo voran. Inzwischen ist es ein Uhr morgens, das Thermometer zeigt fünf Grad über Null, es nieselt. „Da macht Schilder montieren Spaß“, meint Rudi ironisch, nachdem er alles wieder aufgestellt hat und sich die Regentropfen aus dem Gesicht wischt.
Die schwerste Aufgabe dieser Nacht steht dem Team aber noch bevor. Auf der A31 zwingt eine Baustelle den Tross in Coesfeld, von der Autobahn abzufahren: Vollsperrung! Es geht nur über die Bundesstraße weiter. Das bedeutet: Auf den nächsten 20 Kilometern folgt eine Verkehrs-insel der nächsten. Das Prozedere ist immer gleich. Langsam an das Nadelöhr heranrollen, Hindernisse entfernen – notfalls mit dem Trennschleifer – und die regennassen Straßenränder mit Platten auslegen, damit die tonnenschwere Fracht nicht im Morast einsinkt.
Wenn der Fahrer nicht mehr weiterkommt mit seinen Manövern, können die Männer in ihrer gelben Reflektor-Kleidung draußen nachhelfen. Sie kümmern sich dann um die Achsmodule des Schwertransporters und steuern sie separat. Auf einer der vielen Kreuzungen bringt aber selbst das nichts. Ampeln und Straßenlaternen stehen so ungünstig, dass der 40-Meter-Tross stecken bleibt. Wie ein gestrandeter Wal hängt der Schwerlaster morgens um drei Uhr fest. Doch Oliver und Rudi sind Profis: Kurzentschlossen schrauben sie den hinteren Stoßfänger ab und gewinnen so die entscheidenden Zentimeter. Problem gelöst, aber Zeit verloren: drei Stunden hat die Aktion gekostet. In dieser Nacht wird es der Transport nicht mehr ans Ziel schaffen. Um sechs Uhr morgens lotst die Polizei den Zug auf einen Schwerlastparkplatz. Wieder eine ungewollte Pause auf dem Weg in den Norden.
Die e-gas-Anlage in Werlte löst auch ein großes Problem der Energiewende, die Speicherung überschüssig erzeugten Stromes. Heute können die Strommengen von den Küsten im Norden nicht jederzeit in die energieintensiven Zentren im Süden transportiert werden, weil die Kapazität des Stromnetzes nicht ausreicht. Wandelt man den Überschuss-Strom wie in der e-gas-Anlage in Methan, lässt sich die Energie im Erdgasnetz speichern und verteilen.
Erst in der folgenden Nacht erreicht der Tross die Loruper Straße in Werlte. Doch der Schwer-transport ist für den 300 Meter langen Weg, der zur Anlage führt, zu groß, zu breit, zu schwer. Umgeladen auf einem kleineren Lastzug legt der Reaktor die letzten Meter zurück und wird per Kran abgeladen.
Nach acht Monaten Bauzeit und acht abenteuerlichen Transport-Nächten ist der Reaktor von MAN Diesel & Turbo aus Deggendorf in der Audi e-gas Anlage in Werlte angekommen. Und Oliver und Co. können endlich wieder nachts schlafen.
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